Eine neue Art von Nähe - Impulse für mehr Nachhaltigkeit im internationalen Wissenschaftsbetrieb
Die drastischen Reise- und Kontaktbeschränkungen während der COVID-19-Pandemie stoppten Bewegungen und Begegnungen von Menschen auf allen räumlichen Maßstabsebenen abrupt. In vielen Bereichen folgte der Auf- bzw. Ausbau von virtueller Kommunikation mit immenser Geschwindigkeit. Daraus resultiert eine spannende Ambivalenz aus Ferne und Nähe. In der primär vom Präsenzbetrieb gekennzeichneten Welt spielt der Aufenthaltsort eine entscheidende Rolle; in der digitalen Kollaboration löst sich dieser Raumbezug teilweise auf. Auf der einen Seite können große Entfernungen per Online-Konferenz leicht überwunden werden, auf der anderen Seite bieten virtuelle Tools keinen vollständigen Ersatz für den persönlichen Kontakt, etwa in der Kaffeepause oder beim ersten Kennenlernen. Aus der Perspektive des Wissenschaftsbetriebs – die mehr oder weniger auf viele weitere Branchen übertragbar ist – stellt sich die Frage, ob und wie die Erfahrungen aus der Corona-Krise zur Mobilitätswende beitragen können.
Ein*e Deutsche*r verursacht im Durchschnitt insgesamt ca. 11,6 tCO2e-Emissionen pro Jahr. Ein Hin- und Rückflug Frankfurt – New York schlägt allein mit über 3 tCO2e zu Buche. Flugreisen haben also einen immensen Impact auf den persönlichen CO2-Fußabdruck. Die physische Teilnahme an internationalen Projekten und Konferenzen war bisher aus dem Alltag erfolgreicher Forscher*innen nicht wegzudenken. Gerade öffentlich finanzierten Einrichtungen kommt jedoch eine besondere Verantwortung zu, nicht nur mit Forschungsergebnissen, sondern auch als Vorbilder in die Gesellschaft hineinzuwirken.
In den letzten Jahren haben einzelne Hochschulen begonnen, sich dem Thema Flugreisenreduktion aktiv zu stellen. Die ETH Zürich ist eine der ersten Universitäten weltweit, die in ihrem Projekt „Stay grounded – keep connected“ konkrete Reduktionsziele und dazugehörige Maßnahmen erarbeitet hat. Dabei sorgt insbesondere der partizipative Prozess für große Aufmerksamkeit. Das Verzwickte sind die Zielkonflikte: Internationalisierung und Karrierechancen stehen dem Klimaschutz scheinbar unversöhnlich gegenüber. Die Initiativen zur Reduktion von Emissionen aus Flugreisen haben Steine ins Rollen gebracht, aber noch keinen Systemwandel bewirkt. Virtuelle Tools spielen in den Maßnahmenkatalogen eine wichtige Rolle, doch die Listen mit Bedenken sind lang.
Nun hat die COVID-19-Pandemie quasi über Nacht ein riesiges Experiment initiiert. Nicht nur kleinere Workshops, sondern auch große und bedeutende Konferenzen erfahren in diesem Jahr ihre erste virtuelle Auflage. Eines von vielen Beispielen ist das „Fall Meeting“ der American Geophysical Union (AGU), das jedes Jahr im Dezember, meist in San Francisco, über die Bühne geht. Im vergangenen Jahr hatten über 24.000 Wissenschaftler*innen teilgenommen. Milan Klöwer von der University of Oxford hat ausgerechnet, dass das „AGU Fall Meeting 2019“ einen Reise-Fußabdruck von 69.300 tCO2e hinterlassen hat. Für 2020 plant die AGU eine fast komplett virtuelle Konferenz. Angekündigt sind Präsentations- und Interaktionsformate, die Lust auf eine Teilnahme machen.
Die Mobilitätsplattform der ETH Zürich und das TdLab Geographie der Universität Heidelberg haben Anfang März 2020 gemeinsam einen Fragebogen lanciert, der Erfahrungen mit virtuellen Formaten und Tools im akademischen Bereich erhebt. Obwohl gerade die Anfangszeit der Umstellung von Präsenz auf Digital sicherlich für viele nervenaufreibend war, zeugen die Ergebnisse von einer großen Offenheit und vielen positiven Erlebnissen. 75 Prozent der Befragten sprechen sich dafür aus, auch über die Kontakt- und Reisebeschränkungen hinaus mehr virtuelle Events zu organisieren und zu besuchen. Der am häufigsten genannte Grund für diese Zustimmung ist Zeitersparnis. An zweiter Stelle folgt die Vermeidung von CO2-Emissionen. Das klingt nach einem leuchtenden Beispiel eines so genannten „Co-Benefits“. Daran sollten wir anknüpfen und die Tools und Skills, die wir uns in den letzten Wochen erschlossen haben, nutzen, um in Zukunft unsere Reiseentscheidungen kritischer zu prüfen. Der nächste Schritt ist das mutige Experimentieren mit Formaten, die eine neue Nähe nicht nur bei der Informationsübermittlung, sondern auch im persönlichen Austausch schaffen. Der Anfang ist gemacht.
Neuen Kommentar hinzufügen