Wissenschaft und wissenschaftliche Politikberatung in „post-normalen“ Zeiten: Chancen und Herausforderungen
Wissenschaft im Krisen-Rampenlicht
Selten gab es eine Zeit, in der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler über einen längeren Zeitraum so im Fokus der Politik und Öffentlichkeit standen, wie seit dem Beginn der Corona-Krise: keine politische Maßnahme, die nicht mit (jüngsten) wissenschaftlichen Erkenntnissen begründet worden wäre, keine Talkshow mit nicht mindestens einer Wissenschaftlerin oder einem Wissenschaftler, tägliche Pressekonferenzen des Robert-Koch-Instituts mit Liveschalten zum Rundfunk und Fernsehen und Tabellen mit Fallzahlen, Infektionsrisiken und R-Faktoren an vorderster Stelle in Print- und online-Medien prägten das Bild. Im Scheinwerferlicht der Corona-Krise wurden und werden, prototypisch für die noch viel gravierenderen ökologisch-sozialen Krisen, dabei sowohl die Notwendigkeit und Chancen wissenschaftlicher Politikberatung als auch ihre Herausforderungen ausgeleuchtet und die Konturen einer zukünftigen Politikberatung in post-normalen Zeiten sichtbar.
Im Großen und Ganzen hat die Wissenschaft, auch über Fachgrenzen hinweg, die Bühne genutzt und Politik und Öffentlichkeit breit und divers beraten. Sowohl die virologischen und epidemiologischen Unsicherheiten mit Bezug auf Sars-COV2 als auch z. B. auf die ökonomischen, sozialen und kulturellen Folgen wurden differenziert diskutiert. Die Öffentlichkeit bekam vertiefte Einblicke in die Funktions- und Arbeitsweisen des Wissenschaftsbetriebs und eine aktuelle Umfrage des Wissenschaftsbarometers zeigt, dass das Vertrauen in die Wissenschaft zumindest zeitweise in der Bevölkerung anstieg.
Aus einer analytischen Perspektive hat die Krise neben Versuchen der Instrumentalisierung von Wissenschaft (z. B. zur Auflagensteigerung einer einschlägig bekannten Tageszeitung) aber auch einige tieferliegende Probleme der traditionellen wissenschaftlichen Politikberatung verdeutlicht. Die Wissenschaft muss sich eingestehen (und dies tut sie nur teilweise), dass sie bei komplexen Krisenphänomenen wie Corona schlicht an ihre Grenzen kommt:
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Virologie und Epidemiologie stoßen aufgrund der unklaren Datenlage zu (zu)vielen Aspekten von SARS-CoV2 an ihre Grenzen,
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die Sozialwissenschaften können das mögliche Verhalten der Menschen bei den nötigen Maßnahmen zur Kontrolle des Virus kaum vorhersehen,
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die Ökonomik kommt mit ihren klassischen Mitteln der Analyse ebenfalls aufgrund der Komplexität der wirtschaftlichen Auswirkungen an ihre Grenzen,
um nur einige der hier relevanten Beschränkungen zu nennen. Diese Grenzen zeigen sich auch bei anderen Krisen.
Herausforderungen und Konturen einer post-normalen Politikberatung
Es gibt zu viele bekannte und unbekannte Ungewissheiten bei den heutigen komplexen Krisen. Darin liegt eine Herausforderung, der sich Wissenschaft und wissenschaftliche Politikberatung immer noch zu wenig stellen. Silvio Funtowicz und Jerome Ravetz hielten schon 1993 in ihrem Standardtext zur post-normalen Wissenschaft fest, dass die klassische Wissenschaft zu kurz greift, wenn Probleme komplex, die Unsicherheiten groß, die Einsätze hoch und Entscheidungen dringend erforderlich sind. Die Wissenschaft müsse sich in ihrer gesellschaftlichen Beratungsfunktion weiter öffnen, nicht nur zwischen den Disziplinen, sondern auch zu anderen Wissensträgern, z. b. in Richtung Bürgerwissenschaft und Transdisziplinarität und Offenheit und Transparenz müssten im Zentrum stehen.
Daneben sind weitere Entwicklungen „post-normaler“ Zeiten zu beobachten, die die Wissenschaft und ihre Beratungsfunktion herausfordern:
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Die fortschreitende Digitalisierung führt zu einer Wissensexplosion, die einer einerseits einer weiteren Fragmentierung, Unübersichtlichkeit und Spezialisierung Vorschub leistet und die andererseits zugleich einen zunehmenden Einsatz künstlicher Intelligenz zur Erschließung und Nutzung der Wissensbestände mit sich bringt. Dies wirft wiederum neue Fragen z. b. in Bezug auf Transparenz, Verantwortlichkeit und Wertefreiheit KI basierter Wissensproduktion auf.
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Systematische Fake Science und zunehmender Wissenschaftsskeptizismus untergraben die Glaubwürdigkeit und Akzeptanz von Wissenschaft und wissenschaftlicher Politikberatung.
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Die zunehmende Vielfalt und Fragmentierung der Wissensproduktionslandschaft (Hochschulen und Institute, wissenschaftliche Räte und Beratungsgremien, Think Tanks und wiss. Einrichtungen bei und von Stiftungen, Verbänden, etc.) und der wissenschaftlichen Kommunikationskanäle führen zu einer wahrgenommenen Vielstimmigkeit und Unklarheit des Beratungsprozesses. Sie können damit ebenfalls das Vertrauen in die Wissenschaft und die wissenschaftliche Politikberatung unterminieren und ihren Impact schwächen.
Als Konsequenz muss daher eine Neujustierung der wissenschaftlichen Politikberatung erfolgen: weg von separat arbeitenden Räten und Einzelinstitutionen, hin zu mehr integrativen Ansätzen, die Offenheit und Transparenz bzgl. Unsicherheiten in Prozessen und Ergebnissen einbinden. Wichtige Elemente hierfür wären:
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Neue, offene Formate der wissenschaftlichen Beratung, die Stakeholder je nach Fragestellung aktiv in den Prozess einbeziehen und Handlungsoptionen für die Entscheidungsträger öffnen (Beispiel EKLIPSE-Mechanismus)
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Stärkere Nutzung von Reallaboren und anderen Ansätzen der transdisziplinären Forschung bis hin zur Stärkung von wissenschaftlich unterstützen Bürgerdialogen
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ein stärkeres Screening internationaler Assessment-Prozesse hinsichtlich ihrer Relevanz und Nutzung für den nationalen Kontext. (Beispiel INTERNAS-Projekt)
Solche Konzepte sind in vielen Kontexten bereits entwickelt und etabliert, nun gilt es, ihre Methodenvielfalt und Wirkung auch in der Breite zu befördern, denn unsere Probleme bleiben komplex, divers und wertebehaftet und sind damit mit klassischer Beratung allein nicht anzugehen.
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