Die Corona-Krise als gesellschaftliche und wissenschaftliche Herausforderung

Prof. Dr. Jürgen Renn
Prof. Dr. Robert Schlögl
20.05.2020

Die Bedeutung von Nachhaltigkeit und Resilienz

Ein Wiederaufbau nach der Corona-Krise muss ein Umbau werden, der die Nachhaltigkeit von Wirtschaft und Gesellschaft stärkt. Die im Hinblick auf die Corona-Krise kurzfristig veranlassten massiven staatlichen Interventionen und Investitionen zum Schutz der Wirtschaft müssen sich deshalb am Leitkonzept der Nachhaltigkeit ausrichten. Andernfalls wird mit frischem Geld eine ohnehin falsch gesteuerte Entwicklung weg von Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung verstärkt statt korrigiert.

Solange ein Verhältnis zur Natur vorherrscht, das diese als unerschöpfliche Ressource und Deponie behandelt, und solange nicht den verantwortlich Handelnden die Prinzipien von Nachhaltigkeit und der gesellschaftlichen Gerechtigkeit vor Augen stehen, sind die Ursachen der Krise noch gar nicht in den Blick genommen.

Es gilt die Widerstandsfähigkeit gegen kommende Krisen zu stärken, anstatt nur ihre Symptome mit gewaltigen Summen Geldes zu bekämpfen, um sich „Atem zu verschaffen“. Deshalb müssen nun präventiv Nachhaltigkeit und Gemeinwohlorientierung im Zentrum aller Regelungen und Maßnahmen stehen, um die multiplen und interdependenten Krisen der Gegenwart erfolgreich zu bekämpfen.

Die gegenwärtige Corona-Krise steht in einer langen Reihe von Epidemie-bedingten Krisen. Ein übersehenes Problem der jüngeren Krisen ist dabei, dass neben der zunehmenden Mobilität von Menschen auch der allgemeine Verlust von Resilienz von Ökosystemen sowie zunehmende Ungleichheit eine wesentliche Rolle spielt. Wir stehen erst am Anfang, die systemischen Wechselwirkungen zwischen gesellschaftlichen Prozessen wie der Industrialisierung und Globalisierung und anthropogenen Veränderungen der natürlichen Umwelt zu verstehen.

Es gilt Resilienz umfassend als „planetare Gesundheit“ zu begreifen, also als interdependente Widerstandsfähigkeit von menschlicher Gesundheit, Gesellschaften und Ökosystemen. Ein wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Wiederaufbau nach Corona muss in diesem Sinne dazu beitragen, die Widerstandsfähigkeit der globalen Gesellschaft gegenüber solchen Krisen zu stärken.

Die Krise als Herausforderung und Lernerfahrung

Die Corona-Krise liefert, wie jedes disruptive Ereignis, einen Anlass um Strukturen zu überdenken. Die Krise ist deshalb eine Herausforderung für die Gesellschaft insgesamt, auch für die Wissenschaft, die erst damit begonnen haben, den Systemcharakter der Krise und ihre langfristigen Ursachen und Auswirkungen in den Blick nehmen und entsprechend agieren.

Die in der Krise gemachten Lernerfahrungen müssen jetzt genutzt werden. Sie hat insbesondere dazu beigetragen, die Bedeutung von Gemeinschaftsgütern für das gesellschaftliche Leben, die Bewahrung kultureller Errungenschaften und den Wohlstand im 21. Jahrhundert ins allgemeine Bewusstsein zu heben. Zu den positiven Lernerfahrungen gehören u.a. auch die Entdeckung bisher ungenutzter Möglichkeitsräume, wie etwa den Ersatz von Reisen durch digitale Kommunikation und virtuelle Treffen, ebenso wie die von Chancen, die in einer Entschleunigung liegen.

Solche Lehren geraten schnell in Vergessenheit. Dies sollte vorausschauend vermieden werden. Das Trauma einer über Generationen nicht dagewesenen Störung der gesellschaftlichen Interaktion muss jedoch erst noch bewältigt werden, insbesondere auch in seiner intergenerationellen Dimension.

Eine neue Balance

Das Verhältnis zwischen Gemeinschaftsgütern und individuellen Interessen, ebenso wie das Verhältnis von staatlicher Daseinsvorsorge und Intervention und privatem Handeln und Verantwortung müssen neu ausbalanciert werden. Staatliche Institutionen sollten die Entwicklung technischer Infrastrukturen so steuern, dass eine nachhaltige Versorgung mit Energie, Mobilität, Wohnraum, Gesundheit, usw. mit den Entwicklungsmöglichkeiten des Marktes gekoppelt werden.

Eine zentrale Herausforderung für eine nachhaltige Wirtschaft ist der Umbau des Energiesystems, der zugleich eine einzigartige Innovationschance für Deutschland darstellt. Die gegenwärtige Corona-Krise wirkt der Dringlichkeit der Energiewende nicht entgegen, sondern verstärkt diese sogar. Die beispiellosen wirtschaftlichen Rettungsmaßnahmen Deutschlands und Europas können für die Energiewende einen paradigmatischen Charakter entfalten, die ihrerseits Investitionen und radikale Einschnitte mindestens der gleichen Größenordnung verlangt. Ein Preis für fossilen Kohlenstoff muss vereinbart und international etabliert werden, der eine tatsächlich lenkende Wirkung hat. Zugleich sind alle derzeit existierenden gegenläufigen Maßnahmen außer Kraft zu setzen.

Ein Wiederaufbau nach Corona muss die Rolle von Wissenschaft und Forschung für die Analyse und das Verständnis von Krisenursachen und Konsequenzen stärken, auch um den Gefahren ideologischer Instrumentalisierungen zu begegnen. Die Wissenschaft wird sich in Zukunft noch stärker der Herausforderung stellen müssen, Beiträge zur Lösung der großen Menschheitsprobleme jenseits von Disziplingrenzen zu leisten. Die Notwendigkeit, schnell spezifische Lösungen zu erarbeiten, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass holistische, systemische Perspektiven entscheidend sind, um weiteren Herausforderungen und Gefahren für menschliche Gesellschaften zu begegnen.

(gemeinsam mit Christoph Rosol, Benjamin Steininger, Thomas Turnbull und Giulia Rispoli)

Prof. Dr. Robert Schlögl

Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft
Geboren am 23. Februar 1954 in München. Studium der Chemie Univ. München, Promotion ebenda (1982), Postdoc-Aufenthalte in Cambridge und Basel, Post...

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